ISBN-13
9783711052919 |
Nachbarschaft und andere wandelbare Verhältnisse Ungarn ist und war immer schon ein Land der Widersprüche, stellt der Autor Paul Lendvai, Doyen des europäischen Journalismus, fest. REZENSION
Gregor Auenhammer Wie wurden aus ‚kinderfressenden Kannibalen‘ und ‚blutrünstigen Hunnen‘ die ‚Verteidiger des christlichen Abendlandes‘ und ‚heldenhafte Freiheitskämpfer‘ gegen Mongolen, Türken und Russen? Wer waren die ‚asiatischen Barbaren‘, die auf ihren Raubzügen von der Schweiz bis Frankreich, von Deutschland bis Italien Angst und Schrecken verbreitet hatten und doch als die Letzten der Völkerwellen aus Asien nicht in der Versenkung verschwunden sind?", fragt Paul Lendvai in der Einleitung seiner großen Monografie über Die Ungarn. Ungarn ist und war immer schon ein Land der Widersprüche, stellt Lendvai, Doyen des europäischen Journalismus, fest.
Vor exakt 30 Jahren – Ungarn erlebte mit dem Fall der Berliner Mauer, dem Ende des Eisernen Vorhangs, dem Zerfall des sogenannten Ostblocks unter der Ägide der UdSSR, dem Ende des Kalten Krieges gerade eine Aufbruchstimmung und einen Neubeginn – hatte Paul Lendvai erstmals eine Monografie über die "tausendjährige Geschichte" Ungarns verfasst. Nun erscheint dieses Standardwerk in aktualisierter Form. Damals war ein gewisser Victor Orbán erstmals genannt worden, am Ende des letzten Kapitels – als Redner einer denkwürdigen Trauerfeier für den 1958 hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy. Keineswegs absehbar war, welche Wendung Ungarns junge Demokratie unter seiner Führung Jahrzehnte später nehmen sollte. Paul Lendvai, STANDARD-Kolumnist, ORF-Ikone, international agierender und denkender Autor und Kommentator, der, 1928 in Budapest geboren, seit 1957 in Wien lebt, beschreibt das Land seiner Geburt im Spannungsfeld ethnischer Konstellationen, historischer Metamorphosen und politischer Umwälzungen. Vom Stolz der Stephanskrone zu Unterdrückung und Abhängigkeit. Besonderes Augenmerk lenkt Lendvai, aufgrund der geopolitischen Lage im Herzen Europas und der gemeinsamen Vergangenheit, naturgemäß auf das Verhältnis Ungarns zu seinen Nachbarstaaten. Historische Kriege gegen das Osmanenreich, die Ausnahmeposition Siebenbürgens und der langanhaltende Freiheitskampf gegen Österreich und die Habsburger nehmen reichlich Raum ein. "Heldenepen" über Zrinyi, Thököly, Rákóczi, Széchenyi werden luzide hinterfragt und seziert in Richtung Mythos, Märtyrertum, Historiografie und Realität. Lendvai beleuchtet die Situation der Magyaren in Bezug auf Traditionalismus, Modernisierung, Reformations(un)willen, Eigenstaatlichkeit und Unterwerfung. Wesentliche Zäsuren waren die Versöhnung Ungarns mit den Habsburgern unter Andrássy mit der Verbündeten Kaiserin Elisabeth sowie die Hochblüte der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn unter der Dynastie der Habsburger. Mit dem Ende der Monarchie 1918 begann, wie für das Gros der Staaten in Europa, auch in Ungarn ein finsteres Kapitel der Geschichte; geprägt von Nationalismus, Xenophobie, sozialem, gesellschaftlichem und politischem Unfrieden. Profunde Kenntnisse sachlicher Natur changieren in Paul Lendvais Erzählstil stets mit einer Melange an Anekdoten und sind vor allem auch immer beseelt von einem leidenschaftlichen Engagement für ein friedliches und geeintes Europa.
Paul Lendvai, "Die Ungarn. Eine tausendjährige Geschichte".
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Ungarns „gescheitertes Experiment" Paul Lendvai aktualisierte sein Werk um die Jahre 1989 - 2020 Buchtipp von KKS: Wie konnte Ungarn zu einem „erschreckenden Beispiel der neuen Bedrohungen freiheitlicher Demokratien werden? Der ausgewiesene Experte Paul Lendvai versucht, diese Frage in den beiden neuen Kapiteln seines 1989 fertiggestellten Klassikers „ Die Ungarn" zu beantworten. Dazu hat er sich in der erweiterten Neuauflage seines Sammelwerkes über die „tausendjährige Geschichte" Ungarns die vergangenen 30 Jahre zu Herzen genommen. ,,Ich weiß, von tausend Jahren erscheinen 30 vielleicht als wenig", sagt Lendvai zum KURIER. ,,Aber sie sind wichtig. Denn es kam zu einer totalen Änderung der Lage. 2010 passierte nicht nur ein Regierungswechsel, sondern ein Systemwechsel", sagt Lendvai. Geprägt durch Orban Das Experiment der Demokratie, so Lendvai, sei gescheitert. Den Weg dorthin beschreibt der Publizist in gewohnt verständlicher und umfassender Form. Eine Person, die dieses Jahrzehnt in Ungarn geprägt hat wie keine andere, bekommt in den neuen Kapiteln besondere Aufmerksamkeit - Viktor Orban, der „fast mühelos" ein „getarntes autoritäres System" auf bauen konnte.
Die Situation in Ungarn sei möglich wegen der „Begabung und Sonderstellung
von Viktor Orban", aber auch dank einer „gespaltenen Opposition", des
„Fehlens einer Zivilgesellschaft bisher" und der „Gleichgültigkeit im
Westen". Obwohl Lendvai als Kritiker des ungarischen Premiers bekannt ist,
habe er auch die vergangenen zehn Jahre „ohne Hass und Verbitterung und
Befangenheit" beleuchten wollen. |
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30.10.2020 um 18:15 von Burkhard Bischof Lendvais kritischer Blick auf Ungarns Geschichte bis heute. Wie wird die Ära Viktor Orbán von Chronisten der Geschichte Ungarns wohl einmal beurteilt werden? War sie nur ein Ausreißer? Der Beginn einer anhaltenden autoritären Phase? Eine im historischen Hin und Her zwischen Öffnung und Einigelung, zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus, zwischen Einsamkeitsgefühl und Sendungsbewusstsein eher normale Pendelbewegung in Ungarn? Niemand kann das heute wissen, auch der ausgewiesene Ungarn-Kenner Paul Lendvai nicht. Sein 1999 erstmals erschienenes Werk über die tausendjährige Geschichte Ungarns, das viele für das profundeste unter seinen zahlreichen Büchern halten, wurde jetzt um zwei Kapitel ergänzt, die die Entwicklungen seit 1989 beschreiben. Paul Lendvais Abrechnung mit der ungarischen Linken, den Postkommunisten, die das Land nach 1989 etliche Legislaturperioden regierten, ist bitter. Er schreibt von einem „moralischen Bankrott eines korrupten Systems und dem offensichtlichen Scheitern einer politisch und wirtschaftliche inkompetenten Mitte-Links-Elite“. Freilich, es kam nichts Besseres nach, wenn man sich die Ära Orbán mit ihrer im heutigen Europa geradezu beispiellosen Machtkonzentration und Rückwärtsentwicklung zu einer Art Einparteienherrschaft mit pseudodemokratischen Fassadenanstrich ansieht. „Das Beunruhigende an Viktor Orbáns ,illiberaler Demokratie‘ ist“, so Lendvai, „dass sie ohne Beispiel in der ungarischen Geschichte ist, dass ihr Ende nicht absehbar ist.“ Da ist er vielleicht zu pessimistisch. Auch die momentane Apathie und Gleichgültigkeit der Ungarn gegenüber der endemischen Korruption und der den Staat durchdringenden Vetternwirtschaft könnten doch einmal dem Zorn einer sich betrogen fühlenden Bevölkerung weichen. Ewige Verlierer? Lebenskünstler! Aber noch einmal: Was sind schon ein, zwei Jahrzehnte Orbánismus gegen mehr als 1000 Jahre Geschichte seit der Landnahme 896? Lendvai richtet seinen Blick auf den Widerspruch zwischen den genialen individuellen Leistungen und dem wiederholten kollektiven Versagen der Nation. Geschickt vermischt er seinen historischen Überblick mit Milieuschilderungen und biografischen Skizzen. Und er beschreibt die Selbstwahrnehmung vieler Ungarn als ewige Verlierer, die sich dann aber doch als Sieger in der Niederlage, als Bahnbrecher der Moderne und als Lebenskünstler entpuppten. Einzigartig etwa das Treiben des Hochstaplers und genialen Psychopathen Ignaz Trebitsch-Lincoln in den 1920er-Jahren; oder der Höhenflug und Absturz der Prinzessin Stephanie Hohenlohe. Lendvai zitiert den US-Historiker William Johnston, der den Ungarn die Bereitwilligkeit attestierte, „die Welt durch eine rosarote Brille anzusehen und sie dazu verleitet, ihre Größe zu übertreiben“. Besonders gelungen sind zwei Exkurs-Kapitel, in denen Lendvai das gleichzeitig fruchtbare und dramatische Verhältnis der Ungarn zu den Deutschen und zu den Juden analysiert. Insgesamt ist das Werk ein äußerst lesbares Geschichtsbuch, in dem der Verfasser sein Gespür für das Wichtige, das Spannende, das Großartige und das Abstoßende im Zyklus einer Nation beweist. Lendvai gilt als Meister des treffsicheren Zitats, das zeigt er auch in diesem Buch. Und als gebürtiger ungarischer Jude begegnet er seinen Magyaren freundschaftlich, aber doch mit der nötigen kritischen Distanz.
Paul Lendvai
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